BGH, Pressemittelung vom 02.06.2022 zum Urteil vom 02.06.2022, VII ZR 174/19

Deutsche Gerichte dürfen in Verfahren zwischen privaten Prozessparteien die europarechtswidrigen Regelungen zum HOAI-Mindestsatz weiterhin anwenden. Dies entschied am 18.01.2022 der Europäische Gerichtshof (EuGH), nachdem er vor mehr als zwei Jahren (Urteil vom 04.07.2019, Rs. C-377/17) entschieden hatte, dass Deutschland mit seiner HOAI und deren verbindlichen Höchst- und Mindestsatzhonoraren gegen die sog. Dienstleistungsrichtlinie und damit gegen EU-Recht verstößt.

Dieser Entscheidung des EuGH hat sich der BGH nunmehr in dem Ausgangsverfahren, welches dem Urteil des EuGH vom 18.01.2022 zugrunde lag, vollumfänglich angeschlossen und damit die seit Jahren schwelende Grundsatzfrage geklärt, wie im Hinblick auf den vom EuGH 2019 festgestellten EU-Rechts-Verstoß des zwingenden Preisrechts der HOAI mit solchen Alt-Verträgen umzugehen ist, die vor dem 01.01.2021 unter dem Anwendungsbereich der HOAI 2009 und HOAI 2013 geschlossen wurden, und bei welchen die Honorarvereinbarungen die Mindestsätze der HOAI unterschreiten. Streitig war, ob dem Unionsrecht insoweit unmittelbare Wirkung zukommt, und die Gerichte daher die HOAI-Mindestsatzregelungen, die dem EU-Recht widersprechen, nicht mehr anwenden dürfen, und das Unionsrecht dem deutschen nationalen Recht der HOAI insoweit vorgeht.

Dies hat der BGH jetzt in Anlehnung an die Entscheidung des EuGH vom 18.01.2022 verneint und dem in diesem Fall klagenden Ingenieurbüro ein Honorar nach den Mindestsätzen der HOAI (hier 2013) zugesprochen.

Die Vorschriften der HOAI, die das verbindliche Preisrecht (hier Mindestsätze) regeln, sind – so der BGH – nach nationalem deutschem Recht unbeschadet des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 04.07.2019 (C-377/17), mit dem die Europarechtswidrigkeit der verbindlichen Mindestsätze festgestellt wurde, anzuwenden. Die in vorliegendem Fall zwischen den Parteien streitige Pauschalhonorarvereinbarung, welche die Mindestsätze der HOAI unterschritt, war damit nach nationalem Recht wegen Verstoßes unwirksam. Das verbindliche Mindestsatzrecht der – deutschen – HOAI darf von den Gerichten trotz des vom EuGH festgestellten Verstoßes der Mindestsätze gegen die europäische Dienstleistungsrichtlinie weiterhin angewendet werden. Auch sonstige Grundfreiheiten oder allgemeine Grundsätze des Unionsrechts sieht der BGH der Anwendung der verbindlichen HOAI-Mindestsätze im Streitfall als nicht entgegenstehend.

Der BGH weist auch darauf hin, dass die Geltendmachung eines Honoraranspruchs auf Basis der Mindestsätze nicht deshalb als treuwidrig (§ 242 BGB) und damit unzulässig bewertet werden kann, weil die Regelungen zu den Mindestätzen der HOAI gegen Europarecht verstoßen. Vielmehr kann sich eine Partei grundsätzlich weiterhin auf eine nationale (deutsche) Rechtsvorschrift berufen, solange diese weiterhin gültig ist und im Verhältnis der Parteien anwendbar ist.

Der EuGH hatte in seiner Entscheidung vom 18.01.2022 angeführt, dass gleichwohl die Möglichkeit des Gerichts bestünde, die Anwendung der EU-widrigen Regelung aufgrund von innerstaatlichem, deutschem Recht auszuschließen, zum anderen könne die Partei, welcher durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigt würde, Ersatz des ihr daraus entstehenden Schadens verlangen. Gründe für einen Ausschluss der Anwendung der Mindestsätze gemäß § 7 Abs. 3 HOAI oder § 242 BGB sah der BGH in vorliegendem Fall für nicht gegeben, auf den vom EuGH angeführten Schadensersatzanspruch ging der BGH bislang nicht ein. Hierzu wird sich ggf. noch etwas aus dem vollen Urteilstext, welcher bislang nicht veröffentlicht ist, entnehmen.

 

Praxistipp

Der BGH hat damit eine lang ausstehende rechtliche Frage entschieden. Klar ist, dass sich Architekten/Ingenieure bei Verträgen, die vor dem 01.01.2021 geschlossen wurden, hinsichtlich ihres Honorars weiterhin auf den Mindestsatz der HOAI berufen können, die Gerichte sind nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, § 7 HOAI mit seinen Mindestsätzen unangewendet zu lassen.

Unklar bleibt jedoch, wie mit dem vom EuGH angesprochenen Schadensersatzansprüchen gegen den deutschen Staat wegen der Unvereinbarkeit von HOAI und Unionsrecht umzugehen sein wird, und worin der kausal entstandene Schaden tatsächlich liegt. Ungeklärt bleibt zudem weiterhin, was gilt, wenn nicht beide Parteien „Private“ sind, sondern Auftraggeber die öffentliche Hand ist.

Für alle ab dem 01.01.2021 – und damit unter dem Anwendungsbereich der HOAI 2021 – geschlossenen Verträge ist das Urteil nicht mehr relevant. Ab dem 01.01.2021 stellen die Honorare der HOAI – unionsrechtskonform – nur noch unverbindliche Empfehlungen dar. Abweichungen nach oben und unten sind jederzeit möglich, sofern diese – in Textform – vereinbart werden. Aber Achtung: Ohne Regelung zwischen den Vertragsparteien gelten jedoch auch jetzt weiterhin die Mindestsätze, auch wenn diese jetzt Basissätze heißen.

Rechtsanwältin Alexandra Riemann

Fachanwältin für Bau- und Architektenrecht