OVG Münster, Beschluss vom 09.02.2009 – 10 B 1713/08 – veröffentlicht in NVwZ-RR 2009, 459
Entscheidung
Die Antragstellerin hatte sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für ein Wohngebäude auf dem Nachbargrundstück gewandt. Sie befürchtete, insoweit durch das um ein Stockwerk höher als ihr eigenes Wohnhaus geplante Gebäude in der Nutzung ihres Grundstücks beeinträchtigt zu werden, obwohl das geplante Vorhaben die Abstandsflächen nach § 6 NWBauO – die 2006 zu Lasten der Nachbarn modifiziert worden sind – einhielt. Im konkreten Fall lehnte das OVG eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme zwar ab, verdeutlichte jedoch, dass die Einhaltung der bauordnungsrechtlichen Abstandsvorschriften nicht zugleich auch bedeutet, dass grundsätzlich das Rücksichtnahmegebot eingehalten wird.
Zu Recht!
Das OVG führt richtigerweise aus, dass die Einhaltung der Abstandsflächen nach der Bauordnung eine Prüfung des planungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme weder grundsätzlich noch regelmäßig ausschließt. Keinesfalls seien die Regelungen der Bauordnung insoweit lex specialis zu dem in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltenen Gebot der Rücksichtnahme. Diese Annahme verbietet sich schon wegen der Zugehörigkeit der verschiedenen Normen zu verschiedenen Rechtsgebieten mit unterschiedlicher Zweckrichtung und unterschiedlicher Gesetzgebungskompetenz. Auch das Bundesverwaltungsgericht geht in seiner Rechtsprechung davon aus, dass beide Rechtsvorschriften selbstständig zu prüfen sind und das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme auch verletzt sein kann, wenn die landesrechtlichen Abstandsvorschriften eingehalten werden. Das OVG hat vorliegend die Modifizierung der bauordnungsrechtlichen Abstandsvorschriften der NWBauO zum Anlass genommen, diesen Umstand zu betonen und insoweit von seiner früheren Rechtsprechung Abstand zu nehmen. Da die Modifikationen überwiegend zu Lasten des Nachbarn erfolgt sind und insbesondere eine entscheidende Verkürzung der Abstandsflächen aus dem Wegfall des so genannten Schmalseitenprivileges folgt, muss gerade nach der neuen Rechtslage die Einhaltung der Abstandsflächen nicht alleiniges Kriterium für die Beachtung des Rücksichtnahmegebots sein. Das OVG präzisiert insoweit, dass sich der bisherige Automatismus dort als sachwidrig erweist, wo es zu einer nachhaltigen Verkürzung der Abstandsflächen durch die Novelle gekommen sei. In solchen Fällen ist eine eigenständige Prüfung des Gebots der Rücksichtnahme angezeigt. Gründe für einen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot trotz Einhaltung der Abstandsflächen können beispielsweise in einer erdrückenden Wirkung eines Gebäudes auf ein anderes Grundstück
oder einer erheblichen Verschattung liegen.
Praxishinweis
Die Einhaltung von Abstandsflächen ist regelmäßig Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen zwischen Nachbarn. Für den Nachbarn eines Bauvorhabens erweisen sie sich nicht selten als einzige Möglichkeit, gegen ein Bauvorhaben vorzugehen. Die Rechtsprechung des OVG Münster stärkt daher die Rechtsposition des Nachbarn, da sich ein geplantes Vorhaben trotz Einhaltung der Abstandsflächen als rücksichtslos erweisen kann. Dies kann wiederum zur Folge haben, dass der Bauherr seine Planung ändern muss. Für den Bauherrn bedeutet dies zugleich, dass er sich nicht allein auf die Einhaltung der Abstandsflächen stützen kann, um sich erfolgreich gegen mögliche nachbarrechtliche Angriffe zur Wehr zu setzen.
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